16. Mai 2023

Nein „Unsere Grundwerte, die sind nicht verhandelbar!“ Danke. – Teil 2

Geld verdienen und die Welt verbessern? Die einen meinen, das sei ein Luxus, den sie sich nicht leisten können. Die anderen wüssten gar nicht, wo sie da (bei sich) anfangen sollten. Einige, die machen einfach. Die probieren. Die scheitern. Die lernen. Und bewirken positive Veränderungen. Bei ihnen gehören Themen wie Nachhaltigkeit, Klimaschutz oder soziales Engagement zum Alltagsgeschäft dazu. Ohne eine klare Haltung zum gesellschaftlichen Leben und zur Verantwortung als Unternehmen ginge es gar nicht mehr. Aber auch sie haben irgendwann einfach mal angefangen.

Hier Teil 1 lesen.

INTERVIEWS Nina Apelt & Denise Bliesener

Wir haben mit zwei routinierten Hasen in Sachen Nachhaltigkeit gesprochen. Und festgestellt: Auch mit Fußball (Teil 1) und Eiscreme kann man viel Gutes bewirken – abgesehen von der Freude am Sport und dem süßen Genuss. Dass die beiden ausgerechnet aus Hamburg kommen, muss wohl Zufall sein.

» Sobald man eine klare Haltung einnimmt, begegnet man auch Menschen, die eine andere Position vertreten.«

EIN GESPRÄCH MIT NILS KNOOP, BEN & JERRY'S (Interview von 2021)

Ben & Jerry‘s ist schon lange aus seinen Kinderschuhen rausgewachsen. In Sachen Nachhaltigkeit zählt ihr aus unserer Sicht zu den Vorreitern. Oder sind solche Gedanken bei euch auch erst mit der Zeit dazugekommen?

Das war schon Grundgedanke von Anfang an. Ben Cohen und Jerry Greenfield haben sich in der High School kennengelernt und hatten die Idee, ein Business zusammen zu machen – ohne genau zu wissen was genau und wie sowas eigentlich geht. Ursprünglich sollten es Bagels werden! Aber da war das Equipment zu teuer, und nach einem Crashkurs ist es dann eben Eiscreme geworden. Sie verstanden sich nicht als Geschäftsmänner, sondern wollten ihr Business anders führen, als es zu der Zeit üblich war.

Die zwei Grundgedanken lauteten: „If it‘s not fun, why do it?“ und „Als Unternehmen trägt man Verantwortung für die Gesellschaft, in der man lebt und agiert.“ Das daraus resultierende 3-Part-Mission Statement von 1988 hat bis heute Bestand. Es geht um drei gleichwertige Säulen: Erstens um Produktqualität mit guten Zutaten, heute heißt das z.B. Fairtrade, oder unser eigenes Milchprogramm Caring Dairy. Als zweites geht es darum, wirtschaftlich gesund zu handeln. Wir nennen es Linked Prosperity. Jedes Glied aus der Wertschöpfungskette soll profitieren. Als drittes Element gibt es die Social Mission, den Anspruch, sich gesellschaftlich für Gerechtigkeit zu engagieren. Das Besondere dabei: Diese drei Säulen sind absolut gleichwertig.

Ben & Jerry‘s gehört jetzt seit knapp 20 Jahren zu Unilever. Hat das was verändert?

Klar hat sich die Marke in den letzten 20 Jahren verändert. Wäre auch schlimm, wenn nicht, finde ich. Den beiden Gründern war es beim Verkauf aber sehr wichtig, ihre Werte und vor allem die Social Mission von Ben & Jerry‘s zu erhalten. Das führte zu einem recht einzigartigen Kaufvertrag, der festschreibt, dass es ein unabhängiges Gremium gibt, das „independant board of directors“. Diese unabhängige Instanz soll das Herz von Ben & Jerry‘s, wie sie es genannt haben, schützen. Der CEO von Ben & Jerry‘s hat daher zwei „reporting lines“: in die Unilever-Welt und in das Board. Und dort sitzen vor allem aktive Sozial- und Umweltaktivist:innen, keine Geschäftsleute.

Wir müssen an Philip und Waldemar von Einhorn denken, die ihr Unternehmen durch die Beteiligung der Purpose-Stiftung unverkaufbar gemacht haben. Aus Ben & Jerry‘s Perspektive ist so eine Diskussion also gar nicht neu?

Da muss man schon unterscheiden. Purpose Stiftung, gemeinnütziges Eigentum, das ist doch noch einmal anders und weiter gedacht – und eine grandiose Entwicklung. Und ich könnte mir vorstellen, dass auch Jerry und Ben dieses Modell durchaus spannend finden. Unilever und somit auch Ben & Jerry‘s ist und bleibt aber shareholder driven. Das soziale Engagement steht wie gesagt außer Frage. Aber die Aktionäre wollen definitiv auch bespaßt werden.

Eine US-Marke, die sich in Europa politisch engagiert. Ein milchproduzierendes Unternehmen für den Klimaschutz? Hört sich spannend an.

Ja klar. Da gibt es intern wie extern diverse Spannungsfelder. Das Thema Klimaschutz ist für uns als Eiscreme-Company per se ein schwieriger Balanceakt, weil wir Teil des Problems sind. Trotzdem versuchen wir, unseren Fußabdruck kontinuierlich zu verkleinern und orientieren uns bei der Formulierung unserer Ziele an den Science Based Targets. Zudem gibt es seit einigen Jahren super leckere vegane Sorten und wir planen, unsere Range hier weiter auszubauen.

Neben dem Klimaschutz engagieren wir uns vor allem auf sozial-politischem Terrain, das auf unseren Werten basiert und soziale Ungerechtigkeiten bekämpft. Wir setzen uns für Geflüchtete in Europa ein. Dabei geht es gemeinsam mit Sea-Watch um Seenotrettung im Mittelmeer, mit #LeaveNoOneBehind um die Evakuierung der Camps auf den griechischen Inseln und an den europäischen Außengrenzen sowie mit Start with a Friend Geflüchtete und Locals auf Augenhöhe zusammenzubringen. Wir haben hier eine sehr klare Haltung wie zum Beispiel zur Ausweitung der Aufnahmeprogramme in Deutschland. Das führt zu Kontroversen. Für unsere Aktionen bekommen wir nicht von jedem Applaus. Das ist okay. Denn ich glaube sobald man eine klare Haltung einnimmt, begegnet man auch Menschen, die eine andere Position vertreten.

Im Kommunikationsbereich, im Community Management, in den sozialen Medien, aber auch der Presse gegenüber begegnen wir täglich neuen Herausforderungen. Und auch wir entwickeln uns permanent weiter. Hier in Deutschland zum Beispiel waren wir vor fünf Jahren noch auf einem ganz anderen Level und mussten uns erstmal zurechtfinden. Heute arbeiten wir mit vielen tollen NGOs zusammen. Die hatten zu Beginn auch durchaus Vorbehalte. Dachten, dass wir beim ersten Shitstorm oder der ersten, schwierigen Situation gleich wieder abspringen würden, um keinen Imageverlust als Marke zu riskieren. Doch wir sind weiter dabei und setzen auf langfristige Partnerschaften, wie z.B. mit der Amadeu Antonio Stiftung.

Für unsere sozialpolitische Arbeit brauchen wir die Unterstützung der NGOs als Expert:innen, als Insider:innen. Auch um einen für uns machbaren Ansatz zu finden. Uns beschäftigt immer die Frage, welche Rolle können wir überhaupt spielen? Für uns reicht es nicht, nur Aufmerksamkeit zu generieren. Wir wollen Veränderung schaffen, nennen das „impact driven“. Wir kennen aber auch unsere Grenzen und wenn wir keinen Mehrwert bieten können, macht es keinen Sinn, sich zu engagieren nur um sich zu engagieren.

Wie reagierst du auf die Unterstellung, dass ihr doch nur Marketing betreibt, wenn auch auf hohem Niveau?

Generell finde ich total gut, wenn kritisch nachgefragt und hinterfragt wird. Ich komme aus dem Marketing, aus der Kommunikation und natürlich möchte ich die Marke positiv darstellen. Ich liebe es, tolle Stories zu erzählen und eben ein positives Image zu kreieren. Dazu gehört für mich aber auch, dass wir kritischen Fragen standhalten. Fragen nach unserer Motivation, nach der Ernsthaftigkeit oder der langfristigen Absicht. Die Menschen sind kritischer geworden und gehen mehr in die Tiefe. Vor allem die nächste Generation. Ich begrüße das.

Bei Ben & Jerry‘s nennen wir das, was wir machen, werte-basiertes Marketing. Wir scannen nicht erst, was gerade so „in“ ist, um dann auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Wir suchen nach Themen, die zu uns als Marke passen, wo wir einen Mehrwert bieten und echte Veränderung schaffen können. Wir hören in uns hinein und schauen, wo uns Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft auffallen, die unseren Werten entgegen stehen. Dabei stehen wir nicht immer an vorderster Front sondern fühlen uns auch sehr wohl in der Rolle hinter den Kulissen ohne darüber viele Worte zu verlieren.

Empfindest du es als Luxus, dass ihr Freiheit und Budget für solche Aktionen habt, die nichts mit eurem eigentlichen Produkt zu tun haben?

Ich denke, dabei geht es eben um das eigene Verständnis der Marke bzw. davon, wie man Business macht. Wie agiere ich in der Gesellschaft? Welche Verantwortung trage ich als Unternehmen? Momentan ist es doch weniger die Politik, als vielmehr mächtige Unternehmen, die die Welt in die eine oder andere Richtung lenken. Als Eismarke haben wir vielleicht den Luxus, dass wir Leute schnell und einfach erreichen, weil wir leichter einen positiven Einstieg hinbekommen. Denn wenn wir ehrlich sind, wer mag schon kein Eis? In diesem Sinne sehe ich uns in einer gewissen Luxusposition, so eine „Love Brand“ zu sein. Ich beschreibe unsere Rolle gern als Lautsprecher. Wir können durch unsere Reichweite andere Zielgruppen erreichen als z. B. bestimmte NGOs. Können andere Menschen, unsere Fans, ansprechen und für Themen begeistern, die sonst vielleicht nicht so in ihrem alltäglichen Leben stattfinden, auch mit einer anderen Sprache.

Andererseits muss man auch sehen: Wir sind hier in der westlichen Welt. Super privilegiert. Ich bin männlich, hetero, in Deutschland geboren und kenne eigentlich keine Diskriminierung, geschweige denn Rassismus gegen mich. Das empfinde ich als riesen Privileg und daraus entsteht, meiner Meinung nach, auch Verantwortung. Wenn man also Privilegien und Luxus gleichsetzt, dann bewegen wir uns schon in einem recht luxuriösen Rahmen.

» Sie dachten, dass wir beim ersten Shitstorm oder der ersten schwierigen Situation gleich wieder abspringen würden, um keinen Imageverlust als Marke zu riskieren.«

– Nils

Hand aufs Herz: Gilt das, was ihr nach außen kommuniziert auch nach innen?

Auf jeden Fall wird gern und viel diskutiert (lacht). Das kannte ich von anderen Unternehmen vorher nicht. Das soziale Engagement und eine klare Haltung zu zeigen, ist für viele der Grund, bei Ben & Jerry‘s zu arbeiten. Bei den mehrtägigen Europa-Meetings oder globalen Zusammenkünften geht es überspitzt gesagt am ersten Tag immer ganz konkret um Business, Retail und neue Produkte. Neue Eissorten rufen natürlich großen Enthusiasmus hervor. Aber dann, dann wird die übrigen Tage leidenschaftlich über soziales Engagement diskutiert. Wo können wir noch mehr bewirken? Was wollen wir intern verbessern?

Auch bei uns finden wir immer wieder Themen, bei denen wir uns verbessern können. Angestoßen von der Bewegung nach dem Tod von George Floyd gab es einen starken Post von den US-Kollegen, die seit Jahren die Black Lives Matter Bewegung unterstützen. Dabei ging es darum, die White Supremacy, also weiße Überlegenheit, zu überwinden und sich gegen Rassismus und für Chancengleichheit einzusetzen. Wir wissen, dass wir ein eher weißes Unternehmen sind. Und seitdem gibt es einige Arbeitsgruppen, die das Thema Diversity, Inclusion und Equity bei uns angehen, um Worten auch Taten folgen zu lassen.

Think global, act local?

Fest steht global nur der Rahmen: soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz. In der Umsetzung sind wir lokal sehr eigenständig. Und das ist auch wichtig, denn wir können vor Ort am besten beurteilen, wo und wie wir Dinge beeinflussen können. So entstehen auch tolle Kooperationen wie z.B. der Melting Pott, den wir hier in Hamburg mit dem FC St. Pauli entwickelt haben: ein Eisbecher für eine buntere Gesellschaft.

Auch in diesem Bereich wachsen wir und entwickeln uns. Als ich vor etwa fünf Jahren bei Ben & Jerry‘s angefangen habe, da wussten die Leute aus der Kinowerbung: cooles Eis, gute Zutaten, lustig und ein bisschen Hippie. Das war‘s dann aber auch. Heute werden wir immer mehr auch als sozial engagiert und mit klarer Haltung wahrgenommen. Das freut mich.

» Es braucht auch Mut, dass man als Unternehmen Verantwortung trägt.«

– Nils

Steigen dir NGOs aufs Dach, wenn ihr euch als Aktivist:innen von Ben & Jerry‘s vorstellt?

(lacht) Nein, wir bekommen eher eine überraschte Reaktion, wenn es heißt, dass Teile unseres Teams nichts mit dem Produkt Eis zu tun haben, sondern sich ausschließlich um die Social Mission kümmern. Und tatsächlich kommen auch immer mehr NGOs auf uns zu. Unsere Rolle als Social Activists ist ziemlich einzigartig. Ich kenne nur wenige andere Firmen, Patagonia z. B., die diese Rolle so oder so ähnlich überhaupt haben. In diesem Zusammenhang stärkt es unsere Glaubwürdigkeit, dass wir in den Rollen teilweise zwischen Produkt und Aktivismus unterscheiden. Mein Kollege, der direkt mit den NGOs spricht, kann reinen Herzens sagen: „Hey Leute, ich habe mit dem Produkt gar nichts zu tun. Mir geht es nur um soziales Engagement.“ Das hilft, um nicht so zwischen den Stühlen zu sitzen. Da sitze ich dann eher (lacht).

Ich glaube bei Ben & Jerry‘s zieht sich der Anspruch, sich zu engagieren durch alle Bereiche und durch alle Rollen und diesen Enthusiasmus merkt man immer wieder, wenn es darum geht, Kampagnen zu bauen und Veränderung zu schaffen.

Mal nebenbei: Wie viel Eiscreme isst du eigentlich (noch)?

Ach, das hab‘ ich noch nicht über. Wir haben gerade die neuen Sorten für 2021 probiert und da sind schon wieder grandiose Dinge dabei. Ich bin nicht der Typ, der so einen ganzen Becher am Abend leert. Meine Herausforderung ist vielmehr: Wenn ich zum Abendessen eingeladen werde, dann wird natürlich erwartet, dass ich auch Eis mitbringe. Und auch zu Hause wird sich lauthals beschwert, wenn kein Eis mehr im Tiefkühlschrank zu finden ist oder durch Tunnelbau im Becher keine Chunks und Swirls mehr übrig sind.

Viele Unternehmen zögern noch, unabhängig von ihrem Produkt, klar Stellung zu gesellschaftlichen oder politischen Themen zu beziehen, aus Angst, damit Leute zu verlieren. Was ist deine Einschätzung dazu?

Das ist schade, es ist einfach ein total spannendes Feld. Aber es braucht definitiv auch eine gehörige Portion Mut und die Überzeugung, dass man als Unternehmen Verantwortung trägt. Außerdem kann diese Auseinandersetzung auch helfen, seine Marke oder den Markenwert zu schärfen. Es hilft, meiner Meinung nach, auch bei strategischen Entscheidungen. Ebenso im War for Talent. In Zukunft wird es immer wichtiger werden, eine klare Haltung einzunehmen und zu zeigen, wofür man steht, und wofür nicht. Um nicht nur Kunden, sondern auch die Menschen ins Team zu bekommen, die man gerne hätte. Vor zwei Wochen hatte ich einen Gastvortrag bei der ESCP, Master-Studiengang Sustainability. Ich habe gefragt: Was sind die Unternehmen, für die ihr arbeiten wollt? Und es wurden durch die Bank weg nur solche transparenten, nachhaltigen Unternehmen genannt.

Sind die Leute dann auch bereit, unter Umständen weniger zu verdienen?

Ein guter und wichtiger Punkt. Im besten Fall wird sich das eines Tages angleichen oder sogar umkehren. Ich hoffe das sehr. Dass man nicht mehr zwischen dem einen und dem anderen abwägen muss. Also nicht zwischen meinen eigenen Werten und Gutes zu tun oder eben viel Geld zu verdienen. Aktuell muss man diese Entscheidung wohl teilweise noch für sich treffen, aber ich bin davon überzeugt, dass diese Art von Unternehmen zukünftig noch erfolgreicher sein werden und somit diese Lücke sehr bald schließen werden.

Uuups, die Zeit ist schon rum. Jetzt haben wir uns gerade warm geredet und würden gern noch ein wenig rumphilosophieren. Das machen wir dann das nächste Mal! Danke fürs Gespräch.

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Dieser Artikel stammt aus unserem BAM Magazin. Erfahre mehr darüber hier.


NILS KNOOP

Ehem. Ben & Jerry's, Integrated Marketing & CommunikationsNils ist das, was man heutzutage einen digitalen Nomaden nennt. Darum ist er wohl eher an den Stränden von Neuseeland, Portugal, El Salvador und den Lofoten anzutreffen, als in seiner Wohnung in Hamburg St. Pauli. Als ehemaliger Sportjournalist, Kommunikationsmanager bei Nike, Digital und Social Media Freelancer und schließlich als Integrated Marketing & Communication Manager und Behind-the-Scenes Brand Activist bei Ben & Jerry's liebt er es, Menschen und Marken durch innovative Strategien zu positionieren und die Gesellschaft positiv zu verändern. Heute ist Nils Director Global Marketing & Communications bei Plastic Credit Exchange (PCX) benjerry.de

26. April 2023

Nein „Unsere Grundwerte, die sind nicht verhandelbar!“ Danke. – Teil 1

Geld verdienen und die Welt verbessern? Die einen meinen, das sei ein Luxus, den sie sich nicht leisten können. Die anderen wüssten gar nicht, wo sie da (bei sich) anfangen sollten. Einige, die machen einfach. Die probieren. Die scheitern. Die lernen. Und bewirken positive Veränderungen. Bei ihnen gehören Themen wie Nachhaltigkeit, Klimaschutz oder soziales Engagement zum Alltagsgeschäft dazu. Ohne eine klare Haltung zum gesellschaftlichen Leben und zur Verantwortung als Unternehmen ginge es gar nicht mehr. Aber auch sie haben irgendwann einfach mal angefangen.

INTERVIEWS Nina Apelt & Denise Bliesener

Wir haben im Rahmen unseres BAM Magazins 2021 mit zwei routinierten Hasen in Sachen Nachhaltigkeit gesprochen. Und festgestellt: Damals so aktuell wie heute – auch mit Fußball und Eiscreme (Teil 2 - folgt) kann man viel Gutes bewirken – abgesehen von der Freude am Sport und dem süßen Genuss. Dass die beiden ausgerechnet aus Hamburg kommen, muss wohl Zufall sein.

» Die Unternehmen, die zu uns kommen, wissen, worauf sie sich da einlassen.«

EIN GESPRÄCH MIT MICHAEL THOMSEN, FC ST. PAULI E.V. (Interview von 2021)

Beim Thema Profifußball denken wir nicht nur an den Sport, sondern auch an eine imposante Geldmaschinerie. Widerspricht sich das mit euren Werten und dem Idealismus eurer Fans? Wie geht ihr damit um?

Ich fang mal anders an: Wenn ich an Fußball denke, denke ich an Gemeinschaft, denke ich an Solidarität, denke ich an Fan sein und an einen sozialen Ort, an dem sich viele verschiedene Menschen treffen. Zugegeben, das hat sich in den letzten Jahren etwas gewandelt. Die wachsende Kommerzialisierung des Profifußballs und damit verbundene Entwicklungen beeinflussen den Sport. Auch den FC St. Pauli als Teil des deutschen Profifußballs. Und dort müssen wir das Spannungsfeld zwischen „Kommerzialisierung“ und „Identität wahren“, immer wieder ausbalancieren. Vor allem, weil der FC St. Pauli ja nicht aufgrund seiner sportlichen Erfolge bekannt geworden ist.

Wir haben keine Meisterschaft gewonnen, keinen DFB-Pokal. Was wir aber haben, ist eine starke Tradition unserer Werte. Wir, als mitgliedergeführter Verein, stehen für Werte im Stadion und darüber hinaus. Und damit sind wir bekannt geworden, also eher aus dem ideellen Bereich heraus. Und aus der Verbundenheit mit unserem Stadtteil. Wir sehen aber, dass es die Teilnahme am Profifußball braucht, um uns als Verein zu erhalten. Und damit kommt auch die Entwicklung, dass wir uns als Unternehmen sehen müssen. Wir müssen das Unternehmen am Laufen halten. Und dieses, ich nenne es mal, „Punk bleiben“, das müssen wir immer wieder austarieren. Immer wieder schauen, wofür wir denn eigentlich stehen. Wie können wir im oben genannten Spannungsfeld unsere Werte leben?

Was ist also St. Pauli? Was macht euch aus?

Wir sind divers. Die einen sagen, wir sind Profifußballverein. Die anderen sagen, wir sind ein Breitensportverein, weil wir immerhin weitere 22 sporttreibende Abteilungen abseits des Fußballs im Verein haben, wie Handball, Beachvolleyball, Schach, Kegeln und viele andere mehr. Und der Dritte findet, wir sind wie eine Nichtregierungsorganisation, eine NGO, die die Welt retten will, denn so werden wir auch wahrgenommen. Und irgendwo dazwischen verorten wir uns, müssen uns immer wieder finden. Schauen, wo wir jetzt gerade stehen. Wohin wir wollen. Aber wir verlassen nie den Grundsatz, dass wir Teil der Bundesliga sein wollen.

Haben einige von euch auch Angst, politisch Stellung zu beziehen – und damit nicht Everybody‘s Darling zu sein?

Das ist ein stetiger Austarierungsprozess. Unsere klaren Positionen entwickelten sich so in den 80ern aus den Fans heraus. Da kamen Menschen aus dem Stadtteil St. Pauli ins Stadion, die Fußball erleben wollten, aber eben auch eine Haltung hatten. Die wollten sich auch für politische, gesellschaftliche Werte einsetzen und diese nicht an der Stadionkasse abgeben. Der Hauptverein war erstmal skeptisch: bunte Haare, Totenkopffahne. Was sollte das?

Unsere Fans sind dann Mitglieder geworden, um den Verein mitgestalten zu können. Denn als e.V. ist die Mitgliederversammlung das höchste Gremium. Hier geschieht der Austausch: Mitglieder stellen Anträge und bringen Themen ein, die uns im Hauptamt fordern. Und bewirken, dass wir die so gemeinsam geschaffene Wertebasis aus der Fanszene, aus dem Stadtteil heraus, immer mehr integrieren und damit auch nach außen gehen.

Habt ihr auch schon mal die Fangemeinschaft verloren, weil ihr in die falsche Richtung gegangen sein?

Ja. Damals haben wir in der ersten Liga gespielt und es gab unter anderem Vermarktungsaktionen, die von den Fans abgelehnt wurden. Die daraufhin entstandene Protestbewegung nannte sich die „Sozialromantiker“. Um ihren Protest zu verdeutlichen, haben sie die Fans aufgefordert, nicht mehr in Schwarz und Weiß ins Stadion zu kommen, sondern nur noch mit roten Sachen. Den Totenkopf nur noch auf rotem Grund. Und was geschah? Das gesamte Stadion war rot. Es gab eine breite Unterstützung. Die Fanszene wollte nicht, dass der Druck der Kommerzialisierung zu einem Identitätsverlust führt.

Und ein solches Verständnis prägt, wie wir mit Fußball umgehen. Beispiel: Es gibt bei uns keine Präsentation von Eckbällen, also keine Vermarktung wie „dieser Eckball wird präsentiert von ...“. Wir haben keine Werbedurchsagen, während unser Team spielt. Es gibt keine Werbejingles direkt vor dem Anpfiff. Denn da findet der Fansupport statt: Wir singen. Der Fußball und unser Team stehen im Mittelpunkt, unsere Fans, nicht ein:e Sponsor:in. Das sind kleine Zeichen, die du im heutigen Profifußball-Business kaum noch findest. Es wird mitunter bis zum Anpfiff „durchentertaint“. Das findet bei uns nicht statt.

Ist es nicht verlockend, wenn da jemand mit einem dicken Sack Geld um die Ecke kommt und genau so etwas will. Mit dem Geld hättet ihr ja auch die Möglichkeit Gutes zu tun. Wie läuft das ab? Immer wieder Diskussionen? Oder habt ihr festgeschriebene Regeln, um solchen Verlockungen zu widerstehen?

Ja, wir haben natürlich Grundsätze und schreiben tatsächlich immer mehr fest. Aber es gibt auch Grenzfälle, wo wir genauer hinschauen. Da ist vielleicht ein Unternehmen oder eine Branche, die nicht ganz eindeutig zu uns passt, aber: Die sich vielleicht schon auf den Weg machen und die wir in puncto Nachhaltigkeit unterstützen können. Wo wir merken: Die sind offen für Feedback und wollen von Anfang an mit der Fanszene am Tisch sitzen. Wir haben in meinem Bereich einen CSR-Check, mit dem wir alle drei Handlungsfelder der Nachhaltigkeit beleuchten: Soziales, Ökologie, Ökonomie. Wir prüfen jede:n potenzielle:n Partner:in und schauen uns an, wo es Synergien oder eben offene Fragen gibt.

» Das Unternehmen am Laufen halten und ›Punk< bleiben, das müssen wir immer wieder austarieren.«

– Michael

Jetzt in der Corona-Krise tauchen wieder vermehrt soziale Fragestellungen auf. Ist das im Fußball auch so?

Ja, spannend! Auf einmal werden wieder Themen formuliert, die eigentlich schon weg waren. Auf einmal wird wieder über ökonomische Nachhaltigkeit wie z. B. Financial Fair Play gesprochen.

Und hier liegt die Stärke des Fußballs. Ich kenne keinen anderen Ort, wo so viele unterschiedliche Menschen aus unterschiedlichsten Zusammenhängen unter einem Dach zusammenkommen. Und sich committen, gemeinsam für etwas zu sein – trotz ihrer Diversität. In diesem Zusammenhang muss man anerkennen, dass der Fußball eine wichtige gesellschaftliche Rolle spielt, eine privilegierte. Darum müssen wir, aus meiner Sicht, auch nachhaltig aktiv werden. Was wäre der Fußball ohne die Menschen? Ich kann mir das gar nicht anders vorstellen, als dass Fußball die Verpflichtung hat, auch gesellschaftlich Stellung zu beziehen. Das sehen im Profifußball aber längst nicht alle so.

Ist das auch anstrengend, immer den „Nachhaltigkeitswächter“ zu spielen?

Klar. Das ist genau so ein Spannungsfeld wie die anderen Themen. Größtmöglicher sportlicher Erfolg vs. Nachhaltigkeit? Nachhaltigkeit kostet erst einmal Geld. Profifußball bringt Geld. Doch muss man das gegensätzlich denken? Könnte man nicht beweisen, dass Nachhaltigkeit auch Erlöspotenziale auftun kann, z. B. im ökologischen Bereich. Wenn wir im Lebensmittelbereich z. B. sagen: „Wir sind milch- bzw. laktosefrei.“ Oder „Komplett vegetarisch.“ Das macht uns doch viel attraktiver für Menschen, die nur Hafermilch oder vegetarische Produkte erzeugen. Sich eindeutig zu positionieren, schließt vielleicht manche aus, öffnet aber auch viele neue Türen. Ökologische, soziale und ökonomische Nachhaltigkeit in so viele Bereiche wie möglich hineinzubringen und Menschen davon zu überzeugen. Das treibt mich einfach an.

Wir als Designagentur sehen: Euer braun-weißes Logo zeigt nicht die Farben, die man mit Diversität verbindet. Euer Stadion ist dagegen sehr bunt. Wie kommt‘s?

Bei der Gründung des FC St. Pauli von 1910 als e.V. wurden die Vereinsfarben festgelegt. Das ist so. Das bleibt so. Dass unser Stadion so bunt ist, liegt an der Partizipation der Fanszene. Die Fans waren bei der Konzeption des Stadionbaus beteiligt. Deshalb haben wir auch so viele Stehplätze. Sie sind das Herz. Stehplätze sind erschwinglich, sind Teil von Fußball-Kultur. Dann war auch klar, dass Fangruppen und Initiativen weiter mitgestalten wollten. Deshalb sieht es im Millerntor so aus, wie es aussieht und darum gibt es klare gesellschaftspolitische Statements wie „Kein Fußball den Faschisten.“, „Kein Mensch ist illegal.“ Dafür stehen wir Fans, Mitglieder, Mitarbeiter:innen. Humanismus ist nicht verhandelbar. In allen Kurven haben Fangruppen gestickert, gemalt, geklebt, z. T. auch welche aus dem Ausland. Das Stadion gehört formell dem FC St. Pauli, ist aber ein Treffpunkt für Menschen. Die machen uns und den Fußball aus. Und dann sollen sie auch mitgestalten.

„Buntes“ entsteht aber auch aus unseren Partnerschaften wie mit Viva con Agua. Einmal im Jahr findet die Millerntor Gallery statt. Dabei werden u. a. die Umläufe der Haupt- und Südtribüne von Künstler:innen bemalt und das bleibt dann die Saison über.

Wir wollen eurem Ansinnen in Sachen Nachhaltigkeit auf den Zahn fühlen: Ihr habt Partnerschaften mit Levi‘s oder Under Armour. Vorhin hast du euren CSR-Check erwähnt. Sind die da durchgekommen?

Das ist ein komplexes Thema. Im Bereich des Trikots kannst du es streng genommen nur falsch machen mit den großen Anbietern. Jetzt machen wir unsere Spielerkleidung eben selbst und können ganz andere Messlatten in Sachen Nachhaltigkeit anlegen. Und auch dies geht auf einen Mitgliederantrag zurück, der uns zu mehr Nachhaltigkeit in unseren Merch-Produkten aufgefordert hat.

Oder zum Beispiel Levi‘s: Die haben ein Separee bei uns und dort einen Musikübungsraum reingebaut. Denn Jeans und Rockmusik, das passt. Und was passiert? Wenn kein Spiel ist, musizieren dort unter der Woche Kids aus dem Viertel in der Levi‘s Music School. Das ist nachhaltig und sozial. Mit Congstar z.B. verbinden uns einige gemeinsame Werte. Sie scheuen sich auch nicht, gesellschaftliche Inhalte von uns zu verbreiten und stellen Ihre Bandenzeit zur Verfügung. Wir merken also, dass es auch immer Auswirkungen hat, wenn wir mit Partner:innen zusammenarbeiten. Dass wir dort auch gemeinsam Dinge bewirken können und zu Fragen anregen, die es vorher im Unternehmen vielleicht noch nicht gab. Wir betrachten das als gemeinsame Reise, auf die wir unsere Partner:innen mitnehmen wollen. Außerdem wissen die Unternehmen, die zu uns kommen, worauf sie sich da einlassen. Und das meine ich positiv.

Wow. Fußball kann weit mehr gesellschaftliche Relevanz beweisen, als nur 90 Minuten Unterhaltungspaket am Wochenende zu sein. Herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

Dieser Artikel stammt aus unserem BAM Magazin. Erfahre mehr darüber hier.


MICHAEL THOMSEN

Ehem. Geschäftsleiter CSR & Personal bei FC St. Pauli von 1910 e.V.Als studierter Sozialarbeiter und ehemaliger Manager von NGOs und auf Unternehmensseite kennt er alle Perspektiven, die es beim sozialen Engagement innerhalb eines CSR-Ansatzes zu beachten gilt. Gesellschaftlicher Wandel und Fortschritt gelingen seines Erachtens nur, wenn alle das gleiche Verständnis von Erfolg haben. Mittlerweile ist Michael Geschäftsführer im Unternhemen Hamburg Leuchtfeuer. — fcstpauli.com

Dein direkter Kontakt zu Zentralnorden: Royko
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