Wie wir wurden, was wir sind und nicht bleiben wie wir waren

2023 | 17 MIN LESEZEIT

Über Organisationsentwicklung am Beispiel von ZENTRALNORDEN

Ein pinkfarbenes Skateboard, Yogamatten und eine üppig gefüllte Minibar. Das ist das erste, was uns beiden auffällt, als wir Ende 2019 das Büro von ZENTRALNORDEN betreten. „Sehr geil“, denken wir, „genau so etwas haben wir gesucht.“. Ein paar Tage zuvor hatten wir einen Aufruf gestartet: „Liebe Crowd der Kreativwirtschaft! Wer von euch hat ein ‚schillerndes‘ Büro, in dem ich und sechs Teilnehmende unserer Ausbildung in Organisationsentwicklung euch Ende Januar mal besuchen könnten?“. Denise hat uns mit Begeisterung angeboten, eine kleine Tour durch ihre Arbeitswelt zu geben.

Wir von Como Consult sind eine Hamburger Beratungsfirma mit Büros in Hamburg, Berlin und Bogotá und bieten jedes Jahr eine Ausbildung in Organisationsentwicklung an. Eins der Highlights dabei ist die Organisationsbegehung: Die Teilnehmenden besuchen eine Organisation und sind aufgefordert, nur mit ihren fünf Sinnen wahrzunehmen, was ist. Wahrnehmen, ohne direkt zu bewerten: Das gehört zu unseren wichtigsten Beratungswerkzeugen.

Ein paar Bio-Brausen und spannende Gespräche später merken wir, dass ZENTRALNORDEN und Como einiges gemein haben. In beiden Organisationen stehen Veränderungsprozesse an und, viel wichtiger, uns verbinden sehr ähnliche Werte. Wir beschließen, uns auf eine gemeinsame Reise zu begeben. Im ereignisreichen Jahr 2020 war es dann soweit und wir starteten nach umfangreichem Vorab-Austausch die Begleitung eines Organisationsentwicklungsprozesses von ZENTRALNORDEN.

Über das wilde Leben in einer Großfamilie

ZENTRALNORDEN ist also auf dem Weg eines längerfristigen Veränderungsprozesses. Von vier Freunden gegründet, blickt die Kreativagentur heute schon auf zehn ereignisreiche Jahre zurück. Fragen wir nach einem Bild für die interne Zusammenarbeit und das Miteinander lautet die Antwort einstimmig: Familie. Fragen zur eigenen Identität und deren Weiterentwicklung sind für das Team nicht neu. Beständig ist der Anspruch an ihre Zusammenarbeit geblieben: familiär, möglichst hierarchiefrei und inklusiv, Entscheidungen gemeinsam treffen und einen herzlichen Umgang miteinander pflegen. Gleichzeitig wächst die Firma stetig, an Mitarbeiter:innen, zunehmender Kund:innen-diversifizierung und komplexeren Aufträgen. Dies erfordert stärker strukturierte Wege der Entscheidungsfindung, mehr standardisierte Prozesse und Rollen sowie ein professionelles Management. Solche Entwicklungen tragen Konfliktpotenzial, Widersprüche und bergen Spannungsfelder.

Es bestand nun der Wunsch, einen von allen Mitarbeiter:innen getragenen Veränderungsprozess zu starten, um eine gemeinsame Orientierung für die Zukunft zu formulieren: „Welche Vision eint und motiviert uns? Welchen Werten folgen wir dabei? Wie und mit wem wollen wir arbeiten? Was wollen wir bewirken?“. Dazu gehört u.a. auch, interne Prozesse und Entscheidungsverfahren auf den Prüfstand zu stellen sowie Rollen und Kommunikationsregeln (neu) zu definieren. Offener Austausch, Irritationen und Widerstand sind uns dabei hilfreiche Wegbegleiter. In Form von Fach- und Prozessberatung fördern wir die Lösungskompetenzen und Arbeitsfähigkeit des ZN-Teams. Dazu gehören zum Beispiel strategisches Denken und Planen, kollegiale Führung und Balancieren und Nutzen von Spannungen. Den Prozess starteten wir mit einem sogenannten Erkundungsworkshop. Ziel war eine umfassende und kritische Bestandsaufnahme aller Zukunftsbilder, Meinungen, Wünsche und Sorgen, um daraus konkrete nächste Schritte abzuleiten.

Bestes Learning: Planungssicherheit adieu

Wir beobachten oft, dass unsere Kund:innen sich in oder kurz vor fundamentalen Transformationsprozessen befinden. Dies gilt für kreative Start-ups, große Unternehmen und Non-Profit-Organisationen ebenso wie für öffentliche Verwaltungen oder Universitäten. Wenngleich die Ursachen sich unterscheiden, ist allen Organisationen gleich: Ihre Umwelt verändert sich rasant und einschneidend. Die Digitalisierung beispielsweise erfasst alle internen Prozesse und Strukturen, verändert ganze Geschäftsmodelle. Die Klimakrise erfordert ein fundamentales Umdenken in Bezug auf die Werte unseres Wirtschaftssystems. Der demografische Wandel wirkt sich sowohl grundlegend auf die Personalentwicklung in Organisationen als auch auf die Verteilung von Macht und Wertevorstellungen aus. Unsere Gesellschaft wird in ihrer Zusammensetzung diverser, gleichzeitig verschärft sich der politische Diskurs auf allen Ebenen.

Organisationen müssen und wollen sich zunehmend in Wertefragen positionieren. Die Geschwindigkeit und Unübersichtlichkeit des Wandels nimmt zu und führt zu folgender Paradoxie: Bei steigender Komplexität und Unsicherheit über die Zukunft sind Flexibilität und Anpassungsfähigkeit gefragt. 

»Zugleich steigt das Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung. Organisationen müssen auf diesen Wandel reagieren, um zukunftsfähig zu sein.«

Die oben genannten Treiber sind in ihrer Bedeutung und Schnelligkeit jedoch aktuell fundamentaler als früher und erfordern Kreativität, Visionen und große Entscheidungen. Sie führen in Spannungsfelder, in denen Organisationen sich orientieren und ihre eigene Position kontinuierlich ausbalancieren müssen. Es geht nicht nur darum, Prozesse oder Strukturen zu optimieren. Vielmehr geht es um vorausschauende, agile Selbsterneuerung(smechanismen), teils gar um radikale Neuerfindung und Transformation. Wir nennen dieses Phänomen „Anpassungsbewegungen“.

Schlagwörter wie New Work, Agilität, Purpose oder Ambidextrie (das gleichzeitige und damit „beidhändige“ Management und Führen von Kern- und Innovationsgeschäft) sind Antworten auf Fragestellungen der heutigen Zeit. Wenngleich diese Begriffe durch ihren inflationären Gebrauch verwässern, zeigen sie doch, um welche Fragen es vor dem Hintergrund des Wandels geht: „Zu welchem Zweck gibt es unsere Organisation (auch in Zukunft)?“, „Welche konkreten strategischen Ziele leiten sich daraus ab?“, „Wollen wir einen gesellschaftlichen Beitrag leisten und falls ja, welchen? Und wie?“, „Welche individuellen, gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Werte sind für uns handlungsleitend?“, „Wie können und sollen Mitarbeiter:innen tatsächlich mitgestalten?“, „Was erwarten Nutzer:innen unserer Produkte und Dienstleistungen von uns?“, „Wie wollen oder müssen wir uns organisieren, um unsere Ziele zu erreichen?“, „Wie sichern wir unser Überleben und bleiben anschlussfähig?“. Hierauf gibt es keine einmaligen und eindeutigen Antworten, schon gar nicht in der heutigen Zeit. All diese Fragen müssen immer wieder ausgehandelt und balanciert werden. Wir greifen diese Spannungen auf und erarbeiten mit unseren Kund:innen einen produktiven Umgang damit.

Von der Kunst Spannungsfelder als Energiequellen zu nutzen

Wenn wir Organisationen begleiten, bauen wir vertrauensvolle Beziehungen auf und unterstützen beim Klären und Ordnen. Uns Beratenden steht hierfür eine Vielzahl von Ordnungsmustern zur Verfügung. Ein Beispiel sind die „Bilder der Organisation“ von Gareth Morgan. Für Kreativagenturen im Entwicklungsprozess eignet sich seine Metapher der Organisation als Organismus. Im Folgenden skizzieren wir ihre wesentlichen Charakteristika und welche entsprechenden Beobachtungsfelder sich bei ZENTRALNORDEN daraus für uns ergeben haben:

Das Umfeld beeinflusst die Organisation oder umgekehrt – So wie jeder lebende Organismus in Welchselwirkung mit seiner Umwelt steht.

Der aktuelle Markt und die oben genannten Trends beeinflussen die Agentur: Digitalisierung verändert Beratungsleistungen und Kund:innenerwartungen. Gesellschaftlicher, ökologischer und demografischer Wandel führen zu neuen Anforderungen in Markenbildungsprozessen. Gleichzeitig will ZENTRALNORDEN positiv auf seine Umwelt einwirken: Wir beobachten eine starke Ausrichtung auf ideelle und organisationale Werte. Die ZN-Teams stellen „kund:innenlose“, nachhaltige Projekte und Initiativen auf die Beine, die dem Unternehmen keinen direkten monetären Gewinn einbringen. Sie ermöglichen aber, ihre gelebten Werte ins Umfeld zu transportieren. Ein Beispiel ist das jährlich organisierte Wasteless Open Air.

Alle Systeme bestehen aus Subsystemen – So wie ein Organismus aus Zellen, Molekülen oder Organen besteht. Die Subsysteme passen sich nach bestimmten Prinzipien an: So wie sich die Teile eines Organismus im Laufe seines Lebens weiter- oder zurückentwickeln.

Bei ZENTRALNORDEN haben wir eine hohe Mannigfaltigkeit der Subsysteme vorgefunden: Gründer:innen, Führungskräfte, Angestellte, Selbständige, Kreative, Projektmanager:innen, alte Hasen und Häsinnen, Newbies. Und bei längerem Hinschauen würden wir sicher noch einige mehr entdecken. Die kontinuierliche Anpassung der Subsysteme an Einflüsse aus dem Außen und Innen erfolgt sowohl organisch evolutionär als auch bewusst durch Planung und Management gesteuert. Aus Beratersicht erkennen wir hier drei fast schon prototypische Spannungsfelder, für die es gilt, einen produktiven Umgang zu entwickeln, damit die Agentur an ihnen weiter wachsen kann.

We are Family / ZENTRALNORDEN ist eine GmbH

Gründungszweck einer Familie ist, eine Gemeinschaft zu bilden. Gründungszweck einer Firma ist, eine gemeinsame Aufgabe zu erledigen (z.B. Dienstleistungen zu erbringen). Wir raten ZENTRALNORDEN deutlich, sich auf die gemeinsame Aufgabe zu fokussieren: Auf die Profitabilität und somit die Lebensfähigkeit der GmbH. Wir fragen: „Womit genau wollt ihr euer Geld verdienen und die Existenz eurer Firma sichern?“. Ihre Antworten beschreiben vorerst eher das „Wie wollen wir es tun?“ und weniger das „Was genau wollen wir machen?“.

Hohes Autonomiebedürfnis / künstlerische, individuelle Freiheit als Firma entscheidungsfähig zu sein

Eine unserer ersten Wahrnehmungen des ZN-Teams war ein starkes Streben nach Eigenverantwortung und Teilhabe. Solch eine Beobachtung ist typisch für „bewegte“ und „überzeugte“ Organisationen. In Verwaltungen beispielsweise, in denen Entscheidungsfragen strikt hierarchisch geregelt sind, finden wir so etwas weniger. Nicht hierarchisch arbeitende Organisationen brauchen ein höheres Maß an Entscheidungskompetenz. Denn Entscheidungsfähigkeit ist ausschlaggebend für die Weiterentwicklung. Hierarchie hat die Aufgabe, durch Führungsentscheidungen die Realität in die gewünschte Richtung zu bewegen. Ist sie flacher ausgeprägt, oder fehlt sie, braucht es andere Entscheidungsmechanismen wie z. B. die Kollegiale Führung.

Anforderungen des Markts bedienen (und Profit generieren) / Das Umfeld durch das (Vor-)Leben der eigenen Werte beeinflussen

ZENTRALNORDEN möchte einen positiven Wandel in unserer Welt vorantreiben und gerät als dienstleistende Agentur auch immer wieder in das Spannungsfeld zwischen den eigenen Werten und denen ihrer Auftraggeber:innen. Hierbei liegt die Kunst darin, wie aus „dem Einen“ (eigene Werte leben) und „dem Anderen“ (Umsatz generieren) ein „Beides“ entwickelt werden kann. Oder wie man die eigenen Werte auch ein Stück weit in die Welt der Auftraggeber:innen hineinträgt.

Polarität entsteht aus Gegensätzen. Gegensätze bedeuten Perspektivenvielfalt. Gesunde Organisationen sind in der Lage, Gegensätze und die daraus entstehenden Spannungen produktiv für Wachstum zu nutzen. Und hierbei benutzen wir weniger einen ökonomischen, als mehr einen organischen Wachstumsbegriff. Dies bedeutet, dass sich die Organisation kontinuierlich an die Anforderungen des Umfelds anpassen kann und somit ihre Lebensfähigkeit erhält. Werden starke Gegensätze als widersprüchlich oder gar paradox empfunden, braucht es eine besonders hohe Spannungskompetenz in der Organisation: Wir nennen es oft Balancieren.

„Wie ein Seiltänzer seine Balance durch stetige Bewegungskorrektur rund um seinen Mittelpunkt erreicht, so können Organisationen und ihre Mitglieder nur durch bewusste Aktion und kontinuierliche Selbst-Beobachtung, sowie durch die Bereitschaft, auch Fehler und Irritationen zuzulassen und aus ihnen zu lernen, aus sich selbst heraus sicher in der Unsicherheit werden. Hierfür muss die Organisation Zeit und Räume zur Verfügung stellen.“ (Auszug aus unserer Beratungsphilosophie)

Wege aus dem Dilemma

Dilemmata gehören zu Organisationen dazu, können anstrengend sein und sich zu belastenden Konflikten entwickeln. Viel besser aber: Sie produktiv für Wachstum und Entwicklung nutzen. Je mehr Dilemmata es gibt, desto mehr Möglichkeiten hat die Organisation für Entscheidung, Bewegung und Veränderung. Wie also die Spannungen balancieren und produktiv nutzen? Wir bedienen uns gern des sogenannten SySt®-Tetralemmas. Es basiert auf der zweitausend Jahre alten Nagarjuna-Logik und wird in der indischen Rechtsprechung genutzt. Demnach kann das Recht nicht nur der einen oder der anderen Partei zugesprochen werden, sondern auch beiden oder keiner von beiden. In unserer Arbeit mit ZENTRALNORDEN ist das Fördern der Spannungskompetenz ein nächster Schritt. Dafür durchläuft das Team in kleinen Gruppen die „Positionen“ des Tetralemmas und beantwortet z.B. im Rahmen eines Workshops die dort jeweils gestellten Fragen. Die gesammelten Ideen werden im Anschluss priorisiert und mit konkreten Schritten umsetzbar gemacht.

Entwicklungsräume (mit)gestalten

Für nachhaltige Veränderung braucht es Räume, in denen sich die Mitglieder einer Organisation füreinander öffnen, zuhören und Neues entstehen lassen können. In denen Widerstände und Spannungen verstanden und bearbeitet werden können. Und in denen es darum geht, sich der passenden Lösung anzunähern. Für unsere Arbeit ist es wichtig, dass sich die relevanten Personen die Herausforderungen gänzlich und gemeinsam bewusst machen. Die Lösungen können wir nicht vorgeben. Die können unsere Kund:innen nur selbst formulieren. Edgar Schein, einer der Urväter der Organisationsberatung, schreibt: „Dass man die richtigen Leute im Raum versammelt und zu einer dialogischen Erkundung des komplexen Chaos aufbricht, ist vielleicht das beste Modell für eine Zukunft effektiven Handelns.”. Und darum geht es momentan für ZENTRALNORDEN: Die eigene Zukunft bewusst zu gestalten. In solchen Prozessen treffen wir auf Aufbruchsstimmung, Resignation, Euphorie, Skepsis, Konflikte oder Widerstände. Es geht sowohl darum, Neues entstehen zu lassen, aber auch Dinge zu verabschieden und aufzugeben. Das kann weh tun und gleichzeitig sehr befreiend wirken.

Eine spannende Partnerschaft

Mit ZENTRALNORDEN befanden wir uns zu Beginn 2021, noch am Anfang der gemeinsamen Reise. In der Agentur wird jetzt nicht nur designt. Es arbeiten an der Organisationsentwicklung auch fröhlich und voller Tatendrang eine Steuerungsgruppe und vier Arbeitsgruppen zu den Themen Unternehmensstrategie, Kommunikationskultur, Führung und Projektmanagement. Wir freuen uns, ZENTRALNORDEN dabei konstruktiv und mit der passenden Prise Humor zu begleiten. Unser Anspruch ist es, bei jedem Beratungsauftrag auch immer selbst etwas zu lernen. Und da ZENTRALNORDEN nicht gerade für seine Zurückhaltung bekannt ist, kam es dazu, dass die kreativen Köpfe uns nun im Gegenzug beim Aufpeppen unserer eigenen Marke von Como Consult unterstützen. Ein Perfect Match eben!

Dieser Artikel stammt aus unserem BAM Magazin. Erfahre mehr darüber hier.


Michael Beyer

Beratung und Training | Como Consult

Micha hat 2016 zusammen mit ein paar anderen Verrückten das Berliner Büro von Como Consult aufgebaut. Als Organisationsberater liebt er die Arbeit mit Spannungsfeldern und systemischen Strukturaufstellungen. Er würde gerne mal mit Niklas Luhmann und Martin Buber spazieren gehen, um mit ihnen die Verbindung von harter Systemtheorie und jüdischer Religionsphilosophie zu erkunden.

Mattias Wein

Beratung | Como Consult

Nach einigen Jahren in der Non-Profit-Welt ist Matthias seit 2017 bei Como Consult als Berater dabei. Mit Blick auf die riesigen anstehenden Herausforderungen und Umwälzungen der nächsten Jahre fragt er sich, wie Organisationen wohl in zehn Jahren aussehen. Deshalb berät er seine Kund:innen besonders gerne in Strategieentwicklungsprozessen.

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